Für die Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente für MSE fehlte es bislang an dreidimensionalen In-Vitro-Gewebemodellen, die zuverlässig funktionieren. Es werden vor allem zweidimensionale Zellkultursysteme eingesetzt. Da diese normalerweise in einer Monolage auf einer flachen Oberfläche wachsen, können sie das Wachstum und die Reaktion von menschlichem Gewebe nur unzureichend abbilden.
Neben 2D-Zellkulturen kommen daher in der Pharmaforschung oft Tierversuche zum Einsatz. Dies wirft jedoch eine Reihe an ethischen und ökonomischen Fragen auf. Zudem können die Resultate aus Tierversuchen nicht 1:1 auf den Menschen übertragen werden. Es existieren bereits 3D-Zellkulturprozesse, die es geschafft haben, die Unzulänglichkeiten von 2D-Systemen und Tiermodellen zu überwinden. Überzeugt haben diese bisher jedoch nicht. Sie sind zu aufwendig, schwer reproduzierbar und schlecht skalierbar.
Einen Durchbruch brachte die 3D-Druck-Technologie für das Tissue Engineering. Damit kann automatisch 3D-Gewebe auf der Basis von menschlichen Zellen gedruckt werden. Diese Technologie wird bei der Plattform für Medikamentenentwicklung «MUSTANG» eingesetzt. Vincent Revol, Leiter Life Science Technologies bei den CSEM Regionalzentren, erklärt: «Mit diesen Technologien eröffnen sich neue Möglichkeiten für Medikamententests. Dank In-Vitro-Modellen kann auf den Einsatz von Tiermodellen verzichtet werden, und wir erhalten bessere Vorhersagen für die Resultate beim Menschen. Die Tests benötigen weniger Vorbereitungszeit, sind zuverlässiger und können einfacher reproduziert werden.»
Das Ganze ist kompakt: «MUSTANG» kann menschliches Muskelgewebe aus dem 3D-Drucker direkt in einer 24-Well-Platte analysieren. Nach der Reifung und Ausdifferenzierung in einer Inkubationskammer werden die Mikromuskeln durch Elektroden stimuliert. Dabei werden die biologischen Bewegungen des Gewebes nachgeahmt (z. B. Anspannung oder Ermüdung). Ein ausgefeilter Algorithmus, der vom CSEM entwickelt wurde, überwacht automatisch optisch, wie sich die Gewebeaktivität unter Einfluss von verschiedenen Substanzen verhält. Koffein etwa ist ein bekanntes Muskelstimulans.
«Die Kräfte, die wir mit unserem Algorithmus messen, sind extrem klein. Man könnte es damit vergleichen, das Gewicht einer Stubenfliege zu messen. Das liegt im Bereich von 100 bis 500 μN”, beschreibt Vincent Revol. Die Aufgabe des CSEM bestand darin, das Modul zu entwickeln, mit dem die Kräfte ausgelesen werden. Dazu müssen die Muskeln inkubiert sein, gleichzeitig muss aber die eingesetzte Kraft gemessen werden. «Wir haben ein optisches Modul entwickelt und einen Algorithmus eingesetzt, der feinste Positionsänderungen verfolgt. Er beruht auf künstlicher Intelligenz. Somit können wir Positionen im Bereich von weniger als einem Mikrometer genau bestimmen», sagt Vincent Revol.
«Durch diese präzise Messung der Muskelaktivität kann die Plattform neue Medikamente für MSE effizient testen. Daraus entwickeln sich hoffentlich neue Behandlungsmethoden für Patienten», sagt Hansjörg Keller, Senior Principal Scientist bei Novartis. «In nicht allzu ferner Zukunft möchten wir auch Herzmuskeln auf die Plattform aufnehmen. Somit werden wir noch mehr pharmazeutische Anwendungen testen können», fügt er an.
Der 3D-Biodruck hat die Medikamentenforschung revolutioniert. Die Plattform «MUSTANG» ist eine der ersten Lösungen auf dem Markt, welche elektrische Stimulation und das Auslesen der Kraft von Muskelgewebemodellen für das MSE-Medikamenten-Screening in einem einzigen Werkzeug kombiniert. Die Plattform hat das Potenzial, bezahlbare Medikamenten-Screenings zu ermöglichen und gleichzeitig die Anzahl an Tierversuchen zu reduzieren.